Die Sonne steht über einem landwirtschaftlichen Feld

“Es gibt nicht die eine erfolgversprechende Strategie!“

Im Interview: Dr. Gabriele Reiser und Anita Schmitt

40 Jahre lang war Dr. Gabriele Reiser im Dienst des Landes Baden-Württemberg tätig, davon 24 Jahre als Leiterin der Abteilung 3 – Landwirtschaft, Ländlicher Raum, Veterinär- und Lebensmittelwesen des Regierungspräsidiums Tübingen. Im Juli dieses Jahres ist Gabriele Reiser beruflich in den Ruhestand gegangen.
Ihre Nachfolgerin ist Anita Schmitt, die bisherige stellvertretende Leiterin der Abteilung und Leiterin des Referates 32 – Betriebswirtschaft, Agrarförderung und Strukturentwicklung.

Das gesamte Interview zum Download

Frau Dr. Reiser: Im Juli dieses Jahres wurden Sie nach 24-jähriger Leitung der Abteilung „Landwirtschaft, Ländlicher Raum, Veterinär- und Lebensmittelwesen“ in den beruflichen Ruhestand verabschiedet...

DR. GABRIELE REISER: Das Spannendste an meiner Aufgabe als Abteilungsleiterin war die Vielfalt der Themen, für die die Abteilung 3 verantwortlich ist. In der Landwirtschaft decken wir alle Aufgaben-bereiche ab, die landwirtschaftliche Betriebe betreffen. Die Spanne reicht von der Aus- und Fortbildung über die landwirt-schaftliche Produktion mit ihrem umfangreichen Fachrecht bis hin zu den verschie-denen Agrarfördermaßnahmen, Fragen der Agrarstruktur und des landwirtschaftlichen Grundstücksverkehrs sowie die Vertretung landwirtschaftlicher Belange aus öffentlicher Sicht. Außerdem ist die Abteilung obere Jagdbehörde und Fischereibe-hörde.

Ein wichtiger, von der Öffentlichkeit oft kritisch begleiteter Aufgabenbereich obliegt dem Veterinärwesen, der Lebensmittel- und Futtermittelüberwachung. Hier hat Tübingen mit seinen seit 2001 gegründeten Stabsstellen, die in 2021 zur Stabsstel-le Tiergesundheit, Tierschutz und Ver-braucherschutz zusammengefasst wurden, einen besonderen Schwerpunkt.

Darüber hinaus gehört die Bearbeitung spezieller Förderprogramme für den ländli-chen Raum zum Aufgabenspektrum der Abteilung. Mit der Arbeitsgemeinschaft Ländlicher Raum im Regierungsbezirk Tü-bingen (AGLR) hat Tübingen eine besondere Einrichtung, in der sich Interessenvertreter*innen aus dem Regierungsbezirk zu allen Themen des Ländlichen Raums aus-tauschen. Die fachliche Betreuung der AGLR war stets eine besonders spannende Aufgabe, die inhaltlich weit über den Aufgabenbereich der Abteilung hinausreichte.

Die enge Verknüpfung von Landwirtschaft und Verbraucherschutz mit der europäi-schen Gesetzgebung war für mich ein wei-terer interessanter Aspekt. Fast alle Rechts- und Förderbereiche unserer Abteilung sind europäisch definiert. Als überzeugte Europäerin habe ich die Entwicklungen in Europa und in seinen Politikbereichen stets interessiert begleitet.

Auch die Partnerschaft des Regierungspräsidiums Tübingen, des Landkreises Reutlingen und der tschechischen Region Pardubice entstand vor dem Hintergrund des Beitritts Tschechiens zur Europäischen Union in 2004 und war von europäischen Themen geprägt.
 

DR. GABRIELE REISER: Kennzeichnend für die Landwirtschaft ist ein fortwährender Strukturwandel, der in den 24 Jahren im Regierungsbezirk sehr deutlich zu spüren war. Die Zahl der Betriebe hat deutlich abgenommen, die Flächenausstattung und die Tierzahl pro Betrieb sind entsprechend angestiegen.

Nach Angaben des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Betriebe in Baden-Württemberg seit 1999 von rund 61.000 auf 39.085 in 2020 verringert. Dies ist eine Abnahme von 46%. In Tübingen reduzierte sich die Zahl im gleichen Zeitraum um 36% auf 10.262 Betriebe. Besonders stark betroffen waren die Tierhaltungen. Hier gab nach Aussagen des Statistischen Landesamts seit 1999 jeder zweite Betrieb seine Tierhaltung auf. Dies trifft auch auf den Regierungsbezirk Tübingen zu. Betroffen sind in erster Linie die Milchvieh- und Schweinehaltungen, hier gaben 67 % bzw. 81% der Betriebe auf, während die Tierbestände um jeweils knapp ein Viertel zurückgingen.

Die Ursachen dieser Entwicklung sind viel-fältig. Seit Umbau der europäischen Un-terstützung für die Landwirtschaft weg von der direkten Preisstützung hin zu produktunabhängigen Flächenzahlungen hat die Volatilität der Preise für landwirtschaft-liche Produkte in allen Bereichen zugenommen. Mit Abschaffung der Milchquotenregelung im Jahr 2015 schlugen diese Preisschwankungen auch voll auf den Milchmarkt durch, obwohl bereits in den Jahren zuvor die Quotenregelung nicht die preisstützende Wirkung entfalten konnte, die man sich von ihr erhofft hatte.

Aber auch andere Faktoren trugen zur Aufgabe von landwirtschaftlichen Tierhal-tungen bei. Insbesondere in der Schweinehaltung verschärften sich die Bestimmungen in den Bereichen Tierschutz und Im-missionsschutz deutlich. Die erforderlichen Investitionen konnten angesichts der stark schwankenden Marktpreise in vielen Fällen nicht mehr getragen werden. Auch die zu-nehmend kritische Haltung der Öffentlichkeit gegenüber größeren Schweinehaltun-gen bewog Betriebe, die Tierhaltung aufzu-geben.

Auf der anderen Seite gab es auch sehr positive Entwicklungen. Viele Betriebe se-hen ihre Zukunft nicht mehr allein im Größenwachstum, sondern auch in der Diversifikation ihrer Tätigkeit. Gästezim-mer, touristische und pädagogische Angebote, Verarbeitung der eigenen Produkte und Direktvermarktung sind nur einige Beispiele, wie Betriebe ihre Zukunft neu gestaltet haben. Die steigende Nachfrage nach ökologisch erzeugten Nahrungsmittel und eine attraktive Förderung durch das Land ließen die Zahl der Betriebe und ökologisch bewirtschafteten Fläche auf 4.459 Betriebe in 2020 ansteigen. Inzwischen bewirtschaften 11,4% der Betriebe in Baden-Württemberg ihren Betrieb ökologisch im Rahmen der EU-Öko-Verordnung. Dies sind 12,3% der landwirtschaftlichen Fläche des Landes.

Deutlich verschärft haben sich im Laufe der Jahre die Anforderungen an die Be-triebe hinsichtlich einer umweltverträglichen Bewirtschaftung der Flächen, die An-forderungen im Tierschutz und die Anfor-derungen an die Erzeugung von Lebens-mittel bezüglich Unbedenklichkeit und Rückstandsfreiheit.

Die europäischen Förderprogramme, die alle sieben Jahre überarbeitet und auf neu ausgerichtet werden, haben sich deutlich verändert und Anforderungen der Gesellschaft an die Landwirte in puncto Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz schrittweise übernommen.

Insgesamt haben Umfang und Komplexität der Förderverfahren deutlich zugenom-men, und erfordern von den Betrieben, aber auch von der Verwaltung große Sachkenntnis. Der Arbeitsaufwand zur Bewältigung der Verfahren und die Anfor-derungen an die Fachkenntnis der Mitar-beiter*innen der Landwirtschaftsverwal-tung sind deutlich gestiegen.

Wie sieht die Situation hier im Regierungsbezirk Tübingen aus?

DR. GABRIELE REISER: Preisschwankungen am Milchmarkt und ausgedehnte Tief-preisphasen stellen die Milch erzeugenden Betriebe vor große Herausforderungen. Gerade in der Milchwirtschaft sind Investi-tionen langfristig angelegt, die Betriebe haben kaum die Möglichkeit ihre Produktion bei schwierigen Marktsituationen kurzfristig anzupassen. In wieweit der einzelne Betrieb diese schwierigen Phasen durch-stehen kann, hängt im Wesentlichen von der eigenen wirtschaftlichen Situation ab, von der Frage, ob und wann er Investitionen für seinen Betrieb getätigt hat und wie sich seine Vermarktungssituation darstellt.

Das Land Baden-Württemberg bietet den Betrieben mit dem Agrarinvestitionsförder-programm (AFP) Unterstützung bei Investi-tionen an. Dies betrifft sowohl Investitionen in den landwirtschaftlichen Betrieb, also z. B. in den Bau neuer, tierwohlgerechter Ställe, also auch Investitionen zur Diversifizierung der betrieblichen Tätigkeit, z. B. in den Aufbau einer eigenen Verarbeitung und Vermarktung der Milch. Dieses Förderprogramm, das aus Finanzmitteln der europäischen Union, des Bundes und des Landes gespeist wird, spielt im Regierungsbezirk Tübingen eine große Rolle. Rund 40% der Fördermittel des Landes fließen jährlich in den Regierungsbezirk, davon etwa zwei Drittel in die Milchviehhaltung. Allein im Jahr 2020 kamen insgesamt Fördermittel in Höhe von 20 Mio. Euro für Investitionen in landwirtschaftlichen Betrieben des Regierungsbezirks – einschließlich der Investitionen für die Diversifizierung – zum Einsatz.

Unterstützung bietet das Land auch im Vermarktungsbereich über die Marktstrukturförderung, die ebenfalls mit Landes-, Bundes und europäischen Mitteln gespeist wird. Hier können insbesondere kleinere und mittlere Betriebe, z. B. regionale Käsereien, Mühlen, Fruchtsafthersteller und Metzgereien, im konventionellen und im Biobereich unterstützt werden, eine attraktive innovative Produktpalette aufzubauen, um sich erfolgreich am Markt zu platzieren. Eine gut funktionierende regionale Vermarktung bietet vielen Betrieben attraktive Alternativen zu den großen Absatzschienen. In 2020 konnten in der Marktstrukturförderung 10 Mio. Euro für Betriebe im Regierungsbezirk bewilligt werden.

Eine wesentliche Hilfestellung für landwirtschaftliche Unternehmer*innen in Bezug auf die weitere Betriebsentwicklung aber auch für die tägliche Arbeit in den Betrieben sind die vom Land und der Europäischen Union geförderte Modulberatung, der kostenlose Betriebscheck und
das Beratungsangebot der unteren Landwirtschaftsbehörden in den Landratsämtern.

Ist der zunehmende Aufwand zum Schutz der Umwelt in der Landwirtschaft Ihrer Ansicht noch tragbar, oder wird damit der Strukturwandel nochmals zunehmen?

DR. GABRIELE REISER: Der Umbau der Tierhaltung auf Tierwohl orientierte Haltungssysteme ist eine wichtige Aufgabe, der sich die Landwirtschaft stellen muss. Es gilt nun die Vorschläge der Borchert-Kommission in konkrete Handlungsschrit-te umzusetzen, um eine auch in Zukunft von Verbraucher*innen akzeptierte Tier-haltung zu erreichen.

Bereits heute werden im AFP nur Stallbauten gefördert, die über den gesetzlich vorgeschriebenen Haltungsbestimmungen liegen. Auch im Agrarumweltprogramm FAKT des Landes sind Maßnahmen zur Förderung des Tierwohls enthalten, die rege nachgefragt werden.

Diese Programme bieten eine gute Grundlage für weitere Schritte zur Verbesserung des Tierwohls. Ich gehe jedoch davon aus, dass für einen grundlegenden Umbau der Tierhaltung der rechtliche Rahmen ange-passt und erheblich mehr Finanzmittel als bisher bereitgestellt werden müssen.

Unabhängig davon ist es eine wichtige Aufgabe der Verwaltung, die Einhaltung der aktuellen Rechtsbestimmungen zur Haltung, zum Transport und zur Schlachtung von landwirtschaftlichen Tieren zu überwachen und die landwirtschaftlichen Betriebe für die Umsetzung von Tierwohlmaßnahmen zu sensibilisieren.
Das Land hat aufgrund der aktuellen Tierschutzverstöße im Bereich der Schlachtung einen Maßnahmenplan zur Verbesserung des Tierschutzes erarbeitet, der auch eine personelle Verstärkung im Überwachungsbereich vorsieht. Zu Beginn 2021 wurde die Stabsstelle in Tübingen um den Bereich Tierschutz erweitert. Ein interdisziplinäres Team aus Tierärzten*innen, Ingenieuren*innen und Agrar-wissenschaftlern*innen wird künftig die Veterinärverwaltung Baden-Württembergs in ihren Überwachungsaufgaben unter-stützen und neue Konzepte zur Verbesserung des Tierschutzes in Abstimmung mit dem Ministerium und den Behörden entwickeln. Durch diese Aufgabenerweiterung kommt dem Regierungspräsidium Tübingen eine besondere Verantwortung zu, sich im Bereich Tierschutz und Tierwohl zu engagieren.

Anita Schmitt

Frau Schmitt, Sie sind Frau Dr. Reiser als Abteilungspräsidentin gefolgt:

ANITA SCHMITT:  Ich bin in einem kleinen Dorf in Oberschwaben – auf einem landwirtschaftlichen Betrieb – aufgewachsen. Als Kind war ich von der Landwirtschaft überhaupt nicht begeistert, da ich mithelfen musste. Letztlich hat aber meine Verbundenheit zur Landwirtschaft und zum Ländlichen Raum den Ausschlag gegeben.

ANITA SCHMITT:  Die Landwirtschaft steht vor der großen Herausforderung, nicht nur Nahrungsmittel zu produzieren, sondern auch gleichzeitig den gesellschaftlichen Anforderungen an Umwelt-, Natur- und Klimaschutz gerecht zu werden, die Biodiversität zu sichern und das Trinkwasser zu schützen.

In kaum einer anderen Branche sind Schutzgüter wie Klima- und Umwelt gleichzeitig auch Produktionsfaktoren. Ihre Übernutzung verursacht volkswirtschaftliche Kosten, ihr Schutz ist einzelbetrieblich nicht kostenneutral, sondern verursacht erhöhte Produktionskosten. Die Bedingungen und die Erwartungen der Gesellschaft haben sich in den letzten Jahren stark verändert.

Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU versucht einen Beitrag zur Lösung des Konflikts zu leisten. Um die Umwelt-, Klima- und Tierschutzleistungen der Landwirtschaft in der neuen Förderperiode umfassender als bisher zu fördern, soll der Erhalt von Direktzahlungen nun noch stärker an die Einhaltung von Umwelt- und Klimavorschriften gebunden werden.

Der EU-Beschluss sieht hier vor, dass die Betriebe zum Erhalt der Basisprämie künftig mindestens vier Prozent ihrer landwirtschaftlichen Flächen als "nichtproduktive Fläche" oder für Landschaftselemente zum Schutz der Biodiversität und zur Erhaltung des Dauergrünlands sowie zum Schutz von Feuchtgebieten und Mooren bereitstellen müssen. Zudem sind künftig 25 Prozent der Direktzahlungen für sogenannte „Eco-Schemes“, also Öko-Regelungen, aufzuwenden.
Die Erbringung von Leistungen im Rahmen dieser Öko-Regelungen ist für die Betriebe freiwillig. Wer sich diese Gelder jedoch sichern möchte, muss dafür Leistungen für Umwelt-, Klimaschutz oder die Biodiversität erbringen, die über die allgemeinen Auflagen an Umwelt -und Klimaschutz hinausgehen. Ein zunehmender Anteil der jährlichen Direktzahlungen soll in die sogenannte zweite Säule der GAP fließen, damit dort künftig mehr Mittel für Programme zur Förderung von Klima- und Umweltschutzmaßnahmen und zur Stärkung der ländlichen Räume ge-nutzt werden können.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle werden künftig Märkte und Unternehmertum spielen? Landwirtinnen und Landwirten stehen zur Vermarktung ihrer Produkte verschiedene Absatzwege und Abnehmergruppen offen.

Im Vergleich zu anderen produzierenden Wirtschaftsbereichen ist unsere Landwirtschaft vor allem durch kleine Betriebe geprägt. Dadurch ist die Marktposition des einzelnen Betriebs gegenüber möglichen Abnehmern in der Regel schwach. Im Agrarbereich überwiegt der indirekte Absatz, zum Beispiel an den privaten und genossenschaftlichen Handel oder an den Lebensmittel-Groß- und Einzelhandel.

Der Einfluss auf die Vermarktung ist zwar gering, das unternehmerische Risiko aber auch nicht sehr hoch. Um das Gefälle zu den meist ungleich größeren Handels- und Verarbeitungsunternehmen im Agrarbereich zu verringern, können Landwirtschaftsbetriebe ihre Angebotsmengen bündeln. Meist handelt es sich dabei um Erzeugerzusammenschlüsse und Erzeugerorganisationen. Solche Vermarktungszusammenschlüsse werden in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen.

Regionale Produkte gewinnen zunehmend an Bedeutung. Mit dem steigenden Interesse von Verbraucherinnen und Verbrauchern an Transparenz und Regionalität gewinnt die Direktvermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse seit Jahren an Bedeutung. Wer sei-ne Produkte direkt vermarktet, sie gegebenen-falls auch noch weiterverarbeitet, z. B. zu Käse veredelt, hat eine höhere Wertschöpfung und eine größere unternehmerische Freiheit.
Regionale Wertschöpfungsketten sind gerade in Baden-Württemberg besonders stark. Durch eine enge Kooperation zwischen Er-zeugern, Verarbeitern und Handel in Produktketten werden Synergieeffekte genutzt, können Produkte besser abgesetzt und somit die Wertschöpfung erhöht werden.

Ein gutes Beispiel ist die Vermarktungsinitia-tive einer Lebensmitteleinzelhandelskette, die in Zusammenarbeit mit dem Tierschutzbund ein Markenlabel entwickelt hat. Es wurden Haltungskriterien festgelegt, die weit über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen. Zudem werden regionale Futtermittel eingesetzt. Die vertraglich angeschlossenen Land-wirte werden laufend auf die Einhaltung der Standards überprüft und erhalten einen fairen Preis für ihr Engagement.

Letztlich sind planbare Rahmenbedingungen für die Zukunftsperspektiven unserer Landwirte maßgeblich. Es gibt nicht die „Eine“ erfolgversprechende Strategie, um unsere Landwirtschaft zukunftsfähig zu machen. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Betriebe macht es erforderlich für die jeweilige Situation optimale Lösungen zu finden. Daher kann es auch keine generellen Rezepte geben, mit denen der Anschein erweckt wird, alle Prob-leme der Landwirtschaft damit lösen zu können. Vielmehr müssen Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbauern, Acker- und Grünlandbauern, Biobetriebe, Direktvermarkter usw. in ihrer Wertigkeit als gleich betrachtet werden.
Das schließt auch ein, für Probleme spezifische Hilfestellungen angedeihen zu lassen und zu ihrer Förderung maßgeschneiderte Lösungen anzubieten. So kann die Landwirtschaft dazu beitragen, die Artenvielfalt zu erhalten, die Kulturlandschaften zu pflegen und die ländlichen Räume zu stärken.

ANITA SCHMITT:  Das Wetter und letztlich das Klima, war schon immer ein entscheiden-der Faktor der Lebensmittelerzeugung. Auch die diesjährige Ernte zeigt, welche Auswir-kungen Wetterextreme, als Auswirkungen des Klimawandels, auf die landwirtschaftliche Erzeugung haben. Wir hatten im Jahr 2021 zwar meist genügend Wasser für das Pflan-zenwachstum, jedoch herrschten dadurch auch ideale Bedingungen für die Ausbreitung von Pilzkrankheiten. Unwetter, Stürme und Hage-lereignisse gehörten über viele Wochen im Land zur Tagesordnung. Auch global wirkt sich der Klimawandel auf die heimischen Be-triebe aus. Hohe Preise für Getreide und Öl-saaten verteuern die Futterkosten insbesonde-re für Schweinemäster, aber auch für Milch-viehbetriebe.
Daher ist es wichtig, dass sich die Landwirte, betriebsindividuell, auf ihren Betrieb zuge-schnittene Risikomanagementsysteme entwi-ckeln, dazu gehören sowohl ein gutes Be-triebsmanagement mit Versicherung und Rücklagenbildung als auch produktionstech-nische Maßnahmen, wie eine Anbaudiversifi-zierung oder erweiterte Fruchtfolgen. Gerade regionale Eiweißpflanzen mit ihren positiven Eigenschaften für die Ackerböden könnten zukünftig eine größere Rolle spielen. Sie bin-den auf natürliche Weise Luftstickstoff und hinterlassen eine lockere und günstige Boden-struktur.

ANITA SCHMITT:  Geschlossene Schulen und Geschäfte, abgesperrte Kinderspielplätze, menschenleere Busse und Bahnen, verwaiste Plätze und nahezu autofreie Straßen prägten im letzten Jahr während des Lockdowns das Bild fast jeder Kommune. Die Vorteile und Selbstverständlichkeiten städtischen Lebens – fast unbegrenzter Konsum, Nähe und Dichte – verkehrten sich auf einmal ins Gegenteil.

Das Leben auf dem Land wurde eher als ein angenehmer Ort für den Lockdown wahrgenommen. Auf einmal war es attraktiv, außerhalb der Städte zu leben und zu arbeiten. Die Frage bleibt, wie dauerhaft dieser Trend ist.
Eine Vielzahl von Berufsgruppen mit Bürotä-tigkeiten musste kurzfristig ihren Arbeitsplatz ins Homeoffice verlagern. Damit verbunden war auch die Herausforderung, Beruf und Kinderbetreuung bzw. Home-Schooling stabil zu organisieren.

Dies brachte auch die Frage nach geeigneten Arbeitsmöglichkeiten in der eigenen Wohnung auf. Wohnbedingungen in ländlichen Regionen gewähren eher genügend Platz für Arbeitsräume als die engen Wohnungen in den Städten. Dabei zeigte sich, dass bei entprechender Übung ein effizientes Arbeiten zuhause möglich ist und das teilweise Entfallen des zeitaufwendigen Pendelns zu Arbeitsplatz einen wertvollen Lebenszeitgewinn und eine Entlastung für Umwelt und Klima darstellt.
Das vielleicht eher kritisch beäugte Haus auf dem Land stellte sich in Corona-Zeiten vielfach als Vorzug heraus. Nachbarschaften und Herkunftsfamilien, die sich gegenseitig unterstützen, stellen einen sicheren Rahmen dar. Private Grünflächen, Hausgarten und eine intakte Natur waren insbesondere zu Zeiten, in denen keine Reisen möglich waren, willkommene Alternative zur Fernreise. Im-mobilien werden noch stärker als bisher auch auf dem flachen Land nachgefragt.
Auch im Ländlichen Raum wirkt sich das veränderte Einkaufsverhalten – Zunahme des Onlinehandels – auf den Einzelhandel aus und wird den Strukturwandel beschleunigen. Dadurch werden Flächen innerorts frei, die nur schwer umzunutzen sind. Vergleichbares gilt für die Nachfrage nach Büroflächen, da das Homeoffice zu einem festen und stetig wachsenden Bestandteil der Arbeitswelt wird.

ANITA SCHMITT:  Im Regierungsbezirk Tü-bingen zählen rund 78 Prozent der Fläche zum Ländlichen Raum, hier lebt knapp die Hälfte der Bevölkerung. Wir haben hier viele klein- und mittelständische Unternehmen, aber auch sogenannte „hidden champions“, die in der Weltliga mitspielen und attraktive Arbeits-plätze bieten. Der Ländliche Raum ist von jeher das wirtschaftliche Rückgrat des Lan-des.
Die Kommunen sind von jeher bemüht, für die dort lebenden Menschen ein attraktives Wohnumfeld und für die Wirtschaft verlässli-che Rahmenbedingen zu schaffen. Dazu ge-hört auch die Infrastruktur – wie z.B. die ver-kehrliche Erschließung und die digitale An-bindung – der Glasfaseranschluss. Ein schnel-ler Internetzugang ist für Unternehmen mit Blick auf die erforderlichen Dienste (zum Beispiel Web 2.0, Fernwartung, Cloud-Lösungen, Home Office) schon seit Jahren Standortfaktor Nummer Eins.
Unsere klein- und mittelständischen Unter-nehmen im Ländlichen Raum spüren den har-ten Wettbewerb um Fachkräfte und brauchen das richtige Umfeld, um auch weiterhin für qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv zu blei-ben. Dabei spielt die soziale und kulturelle Infrastruktur eine immer wichtigere Rolle, damit attraktive Arbeitsplätze, eine hohe Wertschöpfung und vielfältige Einrichtungen der Daseinsvorsorge auch weiterhin vor Ort erhalten bleiben.

Das A und O einer lebendigen, attraktiven Gemeinde ist die Innenentwicklung, die Chef-sache sein muss. Mit dem Entwicklungspro-gramm Ländlicher Raum (ELR), dem zentra-len Instrument unserer baden-württembergischen Strukturförderung, werden Projekte unterstützt, die lebendige Ortskerne erhalten, zeitgemäßes Leben und Wohnen ermöglichen, eine wohnortnahe Versorgung sichern und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. 2021 wurden im Regierungsbezirk Tübingen in rd. 150 ländlich geprägten Kom-munen knapp 600 Projekte mit  rund 29Millionen Euro ELR-Fördermittel unter-stützt .